Kränkungen

Kränkungen machen krank

von Dr. rer. nat. Marlies Koel

Der Mensch als kränkendes und gekränktes Empfindungswesen.

Jeder weiß, wie Kränkung sich anfühlt. Wissen wir aber auch, was sie mit uns macht? Sind Kränkungen das Tor zum Menschen und zum Menschsein? Sind Kränkungen möglicherweise die Chance schlechthin, uns selbst zu erkennen? Sind wir in der Lage über Kränkungen Mitgefühl und Empathie zu entwickeln? Im Nachfolgenden wird lediglich ein kurzer Einblick in diese komplexe Thematik gegeben.

WAS SIND KRÄNKUNGEN?

Kränkungen zu definieren ist kaum möglich. Jeder Mensch, der auf Kränkungen angesprochen wird, weiß sofort worum es geht, denn sie gehören zum Leben. Nur genau definieren lässt sich eine Kränkung nicht. Wir können sie am ehesten über ihre Wirkung, die sie für den Einzelnen hat, beschreiben: sie kann eine Erschütterung bis in die Tiefe unserer Seele verursachen und unser Selbst, unseren Selbstwert und unser Selbstbild in Mitleidenschaft ziehen. Kränkungen gehen an unsere Substanz und können unsere Persönlichkeit nachhaltig prägen. Wir reagieren sehr unterschiedlich darauf und haben häufig persönliche Kränkungsmuster und

-Verhaltensweisen entwickelt. Sie können nicht nur ein Leben, sondern auch Jahrhunderte überdauern. Manchmal führen Kränkungen zu Rache, welche als eine Form der Rebellion betrachtet werden kann.

Mit der Kränkung sind oft Emotionen der Scham, des Bloßgestellt Seins, der Hilflosigkeit und Ohnmacht, der Orientierungslosigkeit, Verwirrung, des Zweifelns und der Angst verknüpft. Durch jede erneute Herabsetzung wird unsere persönliche Geschichte berührt: alte Verletzungen, Wunden oder Konflikte werden dabei getriggert. Wir können nichts dagegen tun, auch wenn wir versuchen, die Situation zu ignorieren, abzuwehren oder zu verleugnen – die ursprünglichen Kränkungen sind tief in uns gespeichert und sie haben ihre Wirkung.

All diese Herabsetzungen ereignen sich auf den verschiedensten Ebenen: sei es die Verletzung des Einzelnen, der Familie, der Ehre, des Vereins, des Unternehmens, der Religion. Kränkungen sind unvermeidbar. Sie können zu Machtkämpfen führen, den Abbruch von Verhandlungen bedeuten bis hin zur Entstehung von Kriegen. Kränkungen sind ein Teil des menschlichen Zusammenlebens.

Eine gesteigerte Form der Kränkung ist die Demütigung. Sie kann als eine böswillige und absichtliche Kränkung aufgefasst werden. Im Gegensatz dazu finden Kränkungen meist unbeabsichtigt statt. Traumata können ebenfalls als eine massiv erlebte Kränkung aufgefasst werden.

WAS KRÄNKT UNS?

Die Kränkungsinhalte sind nicht festzulegen. Sicher ist, es braucht mindestens zwei Parteien: eine aktive und eine passive Seite. Diejenige Seite, die kränkt, verletzt nicht nur das Gegenüber, sondern gleichzeitig auch sich selbst. Die Seite die gekränkt wird, schwächt sich zusätzlich selbst, da sie sich in Selbstzweifeln ergeht. Es mag sein, dass der Kränkende sich bei einer bewussten Kränkung kurzfristig befriedigt fühlt. Allerdings stellt sich im Anschluss in der Regel ein Gefühl des Mangels und der Selbstkränkung ein.  

Nach einer Kränkung zeigen sich grundsätzlich drei Reaktionsmöglichkeiten:

  • Angriff als beste Verteidigung
  • Rückzug
  • Flucht/Ablenkung

Das was kränkt ist letztendlich von der Interpretation des Gegenübers abhängig. Manchmal ist es sogar so, dass nach einem Kontaktabbruch die Person sich nicht bewusst ist, was eigentlich geschehen ist. Sie kann es nicht verstehen. In meiner Arbeit habe ich erlebt, dass das falsche Geschlecht eines Kindes bereits bei der Geburt eine nachhaltige Kränkung bedeutet hat und ein Leben lang nicht geklärt werden konnte. (Fatal, aber nicht änderbar.)? Traumata sind für mich Ausdruck einer als massiv erlebten Kränkung.

WIE KÖNNEN SICH KRÄNKUNGEN AUSWIRKEN?

Kränkungen haben aufgrund ihrer persönlichen Reaktionsmuster vielfältige Auswirkungen. Da Kränkungen sehr subtil oder auch offen ausgetragen werden, sind die Verhaltensänderungen, die sie hervorrufen können sehr unterschiedlich. Vereinfacht gesagt, gibt es hier drei Hauptstränge des Verhaltens: den des Angriffs, den des Rückzugs und den der Flucht/Ablenkung. Die Hauptstränge können zu schwachen bis hin zu massiven Verhaltensreaktionen führen. Hass und Rache können dadurch Eingang in unser Leben finden, sowie selbstgewählte Isolation oder auch Depression. Die Rache kann eine Form der Rebellion sein.

Das Einzige was wir tun können ist, zu lernen, wie wir damit umgehen. Konstruktiv oder destruktiv.  Wir können Kränkung als Entwicklungsmotor nehmen, um uns selbst kennenzulernen. Damit können wir nicht nur unser Leben bereichern, sondern auch das der anderen. Den konstruktiven Umgang damit bezeichne ich als den „Erzählmodus“. Die betroffene Person lernt, darüber zu sprechen, indem es als eine „heilsame“ Geschichte erzählt wird. Dies betrifft selbstverständlich beide Seiten: die des Gekränkten und des Kränkenden.

SIND KRÄNKUNGEN HEILBAR?
KÖNNEN KRÄNKUNGEN GEMEISTERT WERDEN?

Gelingt es dem oder der Betroffenen, die Geschichte der Kränkung durch einen Perspektivenwechsel neutral zu betrachten,  ist es möglich im Mitgefühl mit sich selbst, wohlwollend und dem Leben gegenüber offen bleiben zu können. Denn die Reaktion auf eine Verletzung ist der Rückzug, der Angriff oder die Flucht/Ablenkung.  Oder wird die Geschichte der Kränkung ein wohlbehüteter Schatz, der aufgrund der Unvermeidbarkeit möglicherweise zum „Idol“ erhoben wird? Durch die Verstrickungen zwischen Gekränktem(r) und Kränkendem(r) entstehen Abhängigkeiten, die zu „Negativkontakten“ führen. Es entstehen immer wiederkehrende Verhaltensmuster, die sich für das Leben nachhaltig negativ auswirken können. Kann die Person lernen, Kränkungen in einen inneren Entwicklungsmotor für sich zu wandeln, und Empathie und Mitgefühl zu entwickeln, ist sie in der Lage auch „Positivkontakte“ aufzubauen.

Wenn derjenige jedoch in einer negativen Kränkungsspirale gefangen ist, kann es zum „Kopfkino“ kommen. Dadurch verliert er seine konstruktive Handlungskompetenz und macht sich abhängig. Die Authentizität, Autonomie, Souveränität und Freiheit ist damit unmittelbarer in Gefahr. Statt einer konstruktiven Weiterentwicklung kann es aus der Ohnmacht und Hilflosigkeit heraus zu Rachegedanken, zum Entstehen von Hass bis hin zur Vergeltung kommen. Dies kann zum Abbruch von Kontakten und Verhandlungen führen, bis hin zur Entstehung von Kriegen.  

WAS IST ZU TUN?
WIE KANN MAN KRÄNKUNGEN BEGEGNEN?
SIND KRÄNKUNGEN HEILBAR?

In der Therapie ist die Kränkung nach wie vor ein „Blinder Fleck“. Kränkungen gehören zum menschlichen Alltag, und sie geschehen immer wieder. Es ist möglich sie zu verdrängen oder abzuspalten, jedoch sind sie trotz bestem Bemühen „nie weg“. Sie sind ein Teil des menschlichen Alltags und Lebens. Mit dieser Verhaltensweise des Abspaltens oder Verdrängens erschweren wir unsere eigene Entwicklung. Dies betrifft selbstverständlich beide Seiten.

Sich gekränkt fühlen ist eine natürliche Emotion, welches in das menschliche Empfindungsspektrum gehört wie heiter, zornig und gelassen. Dadurch, dass es abgespalten und „tiefgefroren“ ist, hat es einen starken Einfluss auf uns. Wir sind damit sozusagen identifiziert.

HEILUNG DER KRÄNKUNG

Durch jahrelange Erfahrung in meiner Praxis habe ich verschiedene Verfahren für einen konstruktiven Umgang mit Kränkungen und ihren Folgen entwickelt. Das Ziel in der individuellen und persönlichen Arbeit ist der zielführende, kreative und auch humorvolle Umgang mit Kränkungen, so dass sie keine Bedrohung oder gar Panik mehr hervorrufen.  

Die Heilung der Kränkung ist nicht notwendigerweise die Vergebung. Neben der Heilung des Schmerzes, Erkenntnisarbeit, Verständnis und Selbstreflexion ist das bedingungslose Anerkennen der Situation unerlässlich. Denn erst mit der 100%igen Anerkennung und Bejahung dessen, ist ein Loslassen möglich. Dann entsteht wieder Raum für Mitgefühl und Selbstliebe.

Fazit: Jenseits des Gekränktseins und der Kränkung, gibt es eine Ebene, wo ein Miteinander und eine Heilung möglich ist.

Entsprechend einem Zitat von Rumi: „Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort.  Dort treffen wir uns“.

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